mymuesli: Pragmatisch in die Selbstorganisation

Wie hat sich mymuesli ein Selbstorganisations-System gebaut, das zur eigenen Organisation passt? Eine Case Study.

Ein gutes Müsli ist für jede*n etwas anderes. Mit dieser Erkenntnis gründeten Hubertus Bessau, Max Wittrock und Philipp Kraiss im April 2007 ihr Online-Start-up mymuesli, bei dem Kund*innen sich ihr Müsli selbst zusammenstellen können. Die ersten Mischungen füllten die Gründer noch per Hand ab und verschickten sie aus ihrer Studenten-WG in Passau. Inzwischen ist aus dem Start-up ein Unternehmen mit rund 550 Mitarbeiter*innen geworden. Die Müslis gibt es in Supermärkten und eigenen Ladengeschäften. Mittlerweile gehören auch eine eigene Tee- und eine Kaffeemarke zu dem Unternehmen. Die Mitarbeiter*innen von mymuesli arbeiten nicht irgendwie, sondern selbstorganisiert, nach holokratischen Prinzipien.

Das Spannungsfeld: Wie wachsen wir, ohne ein kleiner Konzern zu werden?

„Wir mussten alles neu erfinden. Es konnte uns niemand sagen, wie man Massen an individuellen Müslis mixt“, erzählt Hubertus. Schnell konnte das Start-up Unterstützung von zwei Business Angels gewinnen und einen ersten Kund*innenstamm aufbauen. Anderthalb Jahre nach der Gründung folgte der Umzug aus der Passauer Altstadt in ein Gewerbegebiet mit mittlerweile 70 Mitarbeiter*innen. Im zweistöckigen Büro gab es eine Treppe, die zwar rein technisch eine Verbindung darstellte, aber beim Team zu zunehmender Distanz führte: „die da oben“ und „die da unten“ liefen sich nur noch selten über den Weg. In den Folgejahren kamen jährlich mehr als 100 Menschen dazu. Verantwortlich dafür, die richtigen Menschen einzustellen, war und ist Heike Ehmann. Damals hieß ihre Position noch Head of Human Resources: „Ich bin mit dem Auftrag gestartet, das Wachstum von mymuesli voranzubringen und möglichst schnell das Einstellen vieler Menschen zu ermöglichen.“

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Wer so rasant wächst, stellt sich meistens nicht die Frage, was für eine Organisation da eigentlich gerade entsteht. Viele Start-ups bauen die Organisationen nach, die sie von vorherigen Stationen in der Konzern- und Beratungswelt, von befreundeten Start-up-Gründer*innen oder aus der klassischen Management-Literatur kennen. Auf diese Weise entstehen meistens kleine Konzerne mit Positionshierarchien und zentralisierten Entscheidungswegen. Das ist auch bei mymuesli passiert. Rückblickend erzählt Hubertus, dass das Gründerteam damals nicht bewusst organisiert hat, sondern eher die Entwicklungen akzeptierte, von denen es glaubte, sie gehörten zum Unternehmenswachstum natürlicherweise dazu. Daraus ergaben sich jedoch einige Schwierigkeiten:

⚡ Zentralisierte Entscheidungswege: Hubertus hatte eines Tages zum ersten Mal einen ausgedruckten Urlaubsantrag auf seinem Tisch liegen, der auf seine Unterschrift wartete. Für ihn war das das Sinnbild einer Organisation, die sich von den Entscheidungen einzelner Personen abhängig gemacht hat. Neben den Urlaubsanträgen türmten sich täglich noch viele andere Entscheidungen auf, die am Ende immer bei den Gründern landeten – obwohl sie sich in den meisten Fällen nicht als die Personen sahen, die die Entscheidung treffen sollten.

⚡ Kein gemeinsames Team-Gefühl: Die wachsende Mitarbeiter*innenzahl führten dazu, dass die Teams, die untereinander bereits vernetzt waren, ihre Beziehungen weiter vertieften. Sie waren mit mymuesli als Organisation bereits vertraut und kannten sowohl formelle als auch informelle Prozesse. Die Menschen, die monatlich neu dazu kamen, standen ab einer gewissen Größe der Organisation vor der Herausforderung, Anschluss zu finden.

⚡ Spaßverlust im Führungsteam: „Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir dabei waren, eine Art von Organisation zu bauen, in der wir selbst nie hätten arbeiten wollen“, sagt Hubertus. Das Intuitive, das die Arbeit in der frühen Phase des Start-ups ausgemacht hatte, war mymuesli abhandengekommen. Die Freude am Ausprobieren und Austesten ging im betrieblichen Alltag zunehmend unter.

Für das Gründerteam stand fest, dass sich etwas ändern muss. Heute ist mymuesli ein mittelständisches Unternehmen mit rund 550 Mitarbeiter*innen, das überwiegend selbstorganisiert arbeitet. Wie ist der Wandel gelungen? Und wo setzt man an, wenn man eigentlich noch nicht weiß, was am Ende genau herauskommen soll?

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Rollen als Rahmung

Hubertus und seine Mitgründer fingen an, sich mit der Frage nach der passenden Organisationsform auseinanderzusetzen. Sie stießen auf Holacracy und lasen Reinventing Organizations von Frederic Laloux – und fanden darin einige Lösungen für die Probleme von mymuesli. Daher machte sich das Gründerteam mit der Unterstützung der externen Coach Katrin Hinzdorf daran, in einem ersten Schritt aufs rollenbasierte Arbeiten umzusteigen. Rollen sind anders als Positionen spitzer zugeschnitten. Sie sind kleine Verantwortungsbereiche, von denen jede Person in der Organisation eine oder mehrere ausfüllt. Ziel ist es, eine Kompetenzhierarchie zu erschaffen, in der jede Person genau die Rollen und damit die Entscheidungsmacht innehat, in denen er*sie besonders kompetent ist.

Heute ist Hubertus nicht mehr Chief Marketing Officer, sondern hat unter anderem die Rollen Lead Link des Enabling Circles, Shareholder Relator und Unternehmensstratege inne. Heike ist nicht mehr Head of Human Resources, sondern unter anderem Lead Link des People Circles, Exit Feedback Builder und Onboarding Navigator.

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Im Gründungsteam entstand eine Gründer-Rolle, eine Gesellschafter-Rolle und eine Geschäftsführer-Rolle. Letztere füllen Philipp und Hubertus aus. Hubertus hat zudem unter anderem die Rolle Price/Love Ratio Keeper inne, deren Purpose es ist, ein gutes Verhältnis zwischen den Preisen für die Produkte und dem wahrgenommenen Kund*innenwert herzustellen.

Jede Rolle hat neben einem klaren Purpose, also einer Antwort auf die Frage, warum es die Rolle überhaupt braucht, festgeschriebene Domänen, also Bereiche, auf die genau diese Rolle einwirkt und Verantwortlichkeiten, die der Rolle zugeschrieben sind.

Um das rollenbasierte Arbeiten möglichst pragmatisch aus dem Gründerteam in den Rest der Organisation zu tragen, folgten Workshops, in denen die Mitarbeiter*innen ihre Stellenbeschreibungen in Rollen übersetzten. Ziel der Workshops war keine perfekte Lösung, sondern ein erster Prototyp, der in einer Governance-Routine weiter iteriert werden konnte. mymueslis pragmatische Einstellung half dabei: „Bei allem, was wir machen, versuchen wir, gesunden Menschenverstand zu nutzen: das weitermachen, was funktioniert und den Rest einfach sein lassen“, sagt Hubertus.


💡 Welche Probleme löst das rollenbasierte Arbeiten für mymuesli?

→ Entscheidungen werden dezentral (in den entsprechenden Rollen) getroffen und die Organisation ist wieder leichtfüßiger. Hubertus muss mittlerweile keine Urlaubsanträge mehr unterschreiben und auch sonst weniger Entscheidungen treffen, die andere Menschen aus der Organisation genauso gut oder besser treffen können.

→ Rollen machen die Arbeit der Teams kleinteilig sichtbar. Das erleichtert das Onboarding neuer Mitarbeiter*innen und macht auch die Team-Grenzen fluider, da Menschen Rollen in mehreren Kreisen innehaben können.

→ Rollen erlauben es allen in der Organisation, sich ein Profil zusammenzustellen, das gut zu den eigenen Stärken und Präferenzen passt. Damit gehen idealerweise intuitiveres Arbeiten und mehr Spaß am Ausprobieren einher.

Über Meetings die Arbeit verändern

Wer die Arbeit von mehreren Hundert Mitarbeiter*innen auf einmal verändern möchte, braucht dafür ein gut durchdachtes Werkzeug. Für mymuesli waren das die Meetings. Schließlich verbringen dort die allermeisten Menschen einen großen Teil ihrer Arbeitszeit. mymuesli setzt dabei auf drei Meeting-Formen:

  • Das Governance-Meeting aus Holacracy, um an den organisationalen Strukturen zu arbeiten, neue Rollen zu schaffen und vorhandene zu verändern
  • Der Jour fixe als 1:1-Format, in der jede Person, die mindestens eine Rolle im Kreis hat, gemeinsam mit dem Lead-Link des Kreises über persönliche Entwicklungsprozesse reflektiert
  • Den Delegierten-Meeting-Prozess (DMP), bei dem der Fokus auf operativen Themen liegt und von der Coach entwickelt wurde, die bereits das rollenbasierte Arbeiten bei mymuesli eingeführt hat

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Arbeiten an der Organisation: das Governance-Meeting bei mymuesli

Bei mymuesli läuft das Governance-Meeting nach einem klar definierten Ablauf ab. Fester Bestandteil sind die Facilitator-Rolle, die durch das Meeting führt und dafür sorgt, dass am Ende alle Spannungen gelöst sind und die Secretary-Rolle, die alle Ergebnisse dokumentiert.

Schon im Vorfeld zum Meeting sammeln alle Teilnehmer*innen aktuelle Spannungen und Vorschläge für neue oder angepasste Rollen in GlassFrog. Die Spannungen sind zunächst nur für den*die Spannungsinhaber*in selbst sichtbar, erst zu Beginn des Meetings werden die für den Kreis relevanten Spannungen hinzugefügt und prozessiert.


💡 Warum löst der Governance-Prozess ein Problem für mymuesli?

→ Wo vorher die Struktur und Verantwortlichkeiten top-down am Flipchart umgestaltet wurden, wachsen sie nun organisch mit der Organisation mit. Mit einer dezentralen Governance-Routine wird die ganze kollektive Intelligenz des Unternehmens genutzt, um externe und interne Veränderungen auch möglichst gut in strukturelle Änderungen, neue Rollen, neue Kreise zu übersetzen. Der Match zwischen dem, was die Organisation braucht, und ihrer Form ist deutlich größer.

→ Governance-Meetings sind ein Reflexionsangebot. Alle Mitarbeiter*innen sind dazu eingeladen, zusätzlich zur operativen Arbeit auch immer wieder über die organisationalen Strukturen nachzudenken und sie gemeinsam zu gestalten. Das führt insgesamt zu einem stärkeren Nachdenken über das eigene Arbeiten, mehr gemeinsamem Gestalten und mehr Identifikation mit der Arbeit und dem Unternehmen.

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Arbeiten in der Organisation: der Delegierte-Meeting-Prozess

Neben der Arbeit an der Organisation, die im Governance-Meeting im Fokus steht, arbeiten die Kreise bei mymuesli mit einem Standard-Meeting, in dem es um die Arbeit in der Organisation geht, also um die Arbeit, die innerhalb der Kreise und Rollen stattfindet.

Vergleichbar ist das Meeting mit dem Tactical-Meeting von Holacracy. Dort geht es jedoch vor allem darum, schnelle Updates auszutauschen und operative Spannungen („Ich brauche eine Information“, „Ich fordere eine To-Do einer anderen Rolle an“) aus dem Weg zu räumen. Anders als im Tactical Meeting ist im DMP auch Raum dafür, im Meeting selbst zusammenzuarbeiten.

Der Ablauf des Meetings richtet sich nach den Agendapunkten, die jede*r Teilnehmer*in auf die Agenda setzen kann. Diese Punkte müssen einem festen Schema folgend mindestens 48 Stunden vor Beginn des Meetings eingereicht werden, damit die anderen Teilnehmer*innen Zeit haben, sich darauf vorzubereiten.

Jeder Agendapunkt braucht eine Beschreibung des Ausgangszustands, einen klar formulierten Zielzustand mit einem konkreten Lösungsvorschlag und eine Angabe darüber, wieviel Zeit der Agendapunkt voraussichtlich in Anspruch nehmen wird. Drei Fragen sollen bei der Formulierung helfen:

  • Welches Problem soll gelöst werden?
  • Woran erkennst du, dass es gelöst ist?
  • Auf welches Team-Ziel zahlt das ein?

Außerdem geben die Personen, die einen Agendapunkt einreichen, schon mit an, was sie brauchen, um das Problem zu lösen. Die vorgegebenen Möglichkeiten sind:

  1. Information teilen („Ich habe eine Information, die ich mit den Teilnehmer*innen teilen möchte. Danach ist der Agendapunkt erledigt.“)
  2. Advice holen („Ich brauche eine Mini-Beratung aus der Runde, damit ich mein Problem lösen kann.“)
  3. Kreative Zusammenarbeit anfordern („Ich brauche eine kreative Zusammenarbeit mit allen oder ausgewählten Teilnehmer*innen aus dem Meeting.“)

💡 Was leistet der DMP für mymuesli?

→ „Je mehr Autonomie und Freiheit für den Einzelnen gewährleistet sein soll, desto strukturierter muss das System sein, in dem er*sie agiert“, sagt Hubertus. Der DMP stellt durch die akribisch vorbereiteten Agendapunkte sicher, dass in dem Meeting echte Probleme gelöst werden.

→ mymuesli legt viel Wert auf einen organisationalen Alltag, der Spaß macht. Heike erklärt: „Der DMP schafft Spielräume, für die im klassischen Tactical-Meeting kein Platz wäre. Das Meeting ist für uns eine Zwischenlösung: Wir haben einen Raum für Diskussionen und kreativen Austausch, aber immer mit einer festen Agenda, einem Proposal, einer Spannung und einem Ziel.“

→ Selbstorganisation funktioniert nicht ohne Mitarbeiter*innen, die dazu bereit sind, ihre Probleme eigenverantwortlich zu lösen. Das heißt nicht, dass sie bei der Lösung allein gelassen werden, sondern dass sie dafür verantwortlich sind, sich das zu holen, was sie zur Lösung brauchen. Der DMP schafft genau dafür einen Rahmen: Die Teilnehmer*innen müssen in den Agendapunkten klar benennen, was ihr Problem ist und wie es sich lösen lassen könnte. Erst dann findet der Austausch im Team statt.